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Zurückspulen, bitte

Wenn wir jetzt in den Bus steigen und statt nach Köln-Ehrenfeld nach Minus zehn Jahre reisen könnten? Ort gleichbleibend. Die Frage ist gar nicht nur, was wir tun würden. Sondern: Dürften wir überhaupt etwas tun? Würden wir nicht die ganze Kaskade des Lebens kaputt machen? Weil heute plötzlich nichts mehr zueinander passte, da vor zehn Jahren ein Stein an eine andere Stelle verschoben wurde? Dennoch: Gerade, wenn das Leben uns Zäsuren in die Biografie baut, ist der Drang, nochmal hinter die Absperrung zu springen und alles anders zu machen, besonders groß. Wenn man in Enschede, im Stadtteil Roombeek aus dem Auto steigt und über die an den Parkplatz angrenzende Wiese blickt, will man auch springen, den Bus nehmen zum 13. Mai 2000,nachmittags, als man vieles noch hätte anders machen können.

Henk Stubbe ist eigentlich Rentner und führt mich durch das Museum Twentse Welle, das die Geschichte der gesamten niederländischen Region Twente von den Ammoniten an erzählt. Das Museum ist interessant, mir gefällt besonders das Mammut-Skelett und die von einer Dampfmaschine angetriebenen Webstühle, die in der Tuch-Stadt Enschede einen großen Teil der Geschichte ausmachen. Aber immer wieder reden wir dann doch von dieser Katastrophe vor 17 Jahren, die so tragisch war, weil sie so harmlos und so voller Fehleinschätzungen begann. Und ein paar Minuten später waren 23 Menschen tot, knapp tausend verletzt, ein ganzer Stadtteil niedergebrannt, detoniert. Eine Explosion erschütterte den Norden der niederländischen Stadt, die so stark war, dass die Infraschall-Messanlage der Bundesanstalt für Geowissenschaften im 625 Kilometer entfernten Bayerischen Wald, eine gute halbe Stunde später noch die Druckwelle registrierte. "13. Mai 2000." Stubbe webt das Datum in seine Geschichten ein wie ein auffälliges Muster. Die Katastrophe, die alles zerstörte. Und an deren Ort heute ein neues, belebtes Viertel entstanden ist. Inklusive des historischen Museums Twentse Welle.

Angefangen hatte alles mit einem Brand in der ortsansässigen Feuerwerksfabrik. Feuerwerksraketen schossen in den Himmel, die Feuerwehr löschte mit einem Einsatzwagen und zwölf Mann, Schaulustige drängten sich am sonnigen Frühlingstag um das Schauspiel, viele Familien und Studenten, die hauptsächlich im Viertel wohnten, alles schien harmlos, eine Stimmung wie auf einem Straßenfest, auch die Feuerwehr glaubte noch kurz vor halb vier Uhr am Nachmittag den Brand unter Kontrolle zu haben. Nicht einmal zehn Minuten später brennt der gesamte Stadtteil. Container mit Feuerwerkskörpern explodieren, man vermutet auch illegal gelagertes Material, für das es keine Genehmigungen gab. Die zweite Explosion entwickelt eine Sprengkraft von knapp 5000 Kilogramm TNT. 

Henk Stubbe und ich haben Mammut und Webstühle unter uns gelassen und sind in den siebten Stock des Museumsturms gefahren. Der 78-Jährige streckt die Arme aus und malt imaginäre Linien auf die Gegend unter uns. Der Turm, auf dem wir stehen, ist das Zentrum eines Stadtteils voller Neubauten. Vieles hat man versucht, zu rekonstruieren. Zum Beispiel wurden die alten Arbeiterhäuser wieder aufgebaut, wenn auch in modernen Versionen. "All das hier wurde zerstört am 13. Mai 2000." Stubbe würde gerne den Bus nehmen zu diesem Tag vor 17 Jahren, nachmittags um halb vier. Er würde die Leute nach Hause schicken.

Heute erinnert ein Schild auf dem Rasen neben dem Parkplatz an die Katastrophe und deren Opfer. Einige Autos parken auf der Gedenkwiese. Es ist viel los im gegenüberliegenden Einkaufszentrum. Außerdem: Nebenan ist Flohmarkt, es gibt Luftballons und Rosinenbrötchen. Die Leute sind so zahlreich, dass die Luft summt von ihren Gesprächen, vom Lachen und Rufen. An den Ständen stapeln sich billige Kinderklamotten und nachgemalte niederländische Meister in Öl. Der Regen hat sich verzogen, die Verkäufer befreien ihre Auslage von schützenden Plastikplanen. Es wird ein ausgelassenes Straßenfest werden. Ein niederländischer Alleinunterhalter singt Michael Holms Schlager: "Tausend Träume bleiben ungeträumt. Und tausend Küsse kann ich ihr nicht schenken. Ich gebe nicht auf und such nach ihr in der heißen Sonne von Mendocino."

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